„Principles“

 Ray Dalio

 

Als ich zum ersten Mal von Ray Dalio und seinen „Prinzipien“ hörte, war ich fasziniert. Denn sein Ansatz, Erfolg als zwangsläufiges Ergebnis der strikten Einhaltung bestimmter Prinzipien darzustellen, hatte etwas, das mich an Marc Aurel und seine „Meditationen“ erinnerte.

Was mich auch ansprach war die persönliche Geschichte von Ray Dalio, der es geschafft hat, einen Hedge Fond aufzustellen, der – nach Assets bewertet – mit einem Kapital von mehr als 150 Mrd. USD der größte und erfolgreichste Hedgefond der Welt ist: Bridgewater. Er selbst stammt aus normalen Durchschnittsverhältnissen, konnte also nicht auf einem großzügigen Erbe aufbauen oder von besonders guten Beziehungen profitieren.

Wenn jemand in seinem Fachgebiet sehr erfolgreich ist, könnte es sich lohnen zuzuhören, wenn er ein wenig über seine Vorgehensweise mitteilt. Trotzdem waren meine Erwartungen nicht sehr groß. Dafür habe ich schon zu häufig feststellen müssen, dass Erfolg im Business noch lange nicht heißt, über besonderes Wissen oder Weisheit zu verfügen. Manchmal ist es auch „nur“ Glück und Durchhaltevermögen gewesen, die in langatmigen Anekdoten umgedeutet werden.

Um es vorweg zu nehmen: Ray Dalios Buch hat mir trotzdem ein paar interessante Einsichten vermittelt, wie weit einen der Einsatz von klaren Prinzipien bringen kann – und wohin es führen kann, wenn man übertreibt. 

Prinzipien als Erfolgskonzept?

In Ray Dalios Welt ist ein Unternehmen eine Maschine, die über ein Betriebssystem aus Prinzipien gesteuert wird. Dabei sind drei Bestandteile wesentlich: radikale Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen, radikale Transparenz über alles was im Unternehmen passiert und die Herrschaft einer „Ideen-Meritokratie“.

Was ist eine „Ideen-Meritokratie“?

In einer Ideen-Meritokratie darf jedes Team-Mitglied über jede Idee, die im Unternehmen diskutiert wird, mit abstimmen. Das Ziel ist dabei, möglichst alle klugen und unabhängigen Denker im Unternehmen in einen gemeinsamen Denkprozess zu führen, um mit Hilfe der Gruppenintelligenz zu bestmöglichen Entscheidungen zu kommen.

Da aber nicht alle Ideen das gleiche Gewicht haben können, werden die Vorschläge von denjenigen Mitarbeitern besonders stark gewichtet, die über eine hohe Glaubwürdigkeit verfügen. Dalio prägt dafür den Begriff des „believability weight“. Basierend auf den bisherigen Erfahrungen mit dem Ideengeber und seiner Fähigkeit in der Vergangenheit, eine Idee transparent und verständlich machen zu können, wird diese Idee höher gewichtet als Ideen von Mitarbeitern ohne eine so positive Bewertung.

Laut Dalio ist dieses System zum Treffen von Entscheidungen für die Zukunft des Unternehmens am besten geeignet, weil es auf totaler Ehrlichkeit beruht und automatisch zu kontinuierlichen Verbesserungen führt.

Sein Ziel ist also die „Herrschaft der Kompetenz“ statt die „Herrschaft des Selbstmarketing“.

Aber wie wird die Glaubwürdigkeit des Einzelnen, also das „believability weight“ bestimmt? Die Antwort lautet: durch permanentes konsequentes Leistungsfeedback von jedem für jeden in Echtzeit und durch strenge Disziplin aller Team-Mitglieder in der Verfolgung von Ray Dalios Prinzipien für den Einzelnen und für das Unternehmen.

Ich gebe zu: Einiges hat mich beim Lesen an George Orwell erinnert. So fordert Dalio dazu auf, alle Meetings im Unternehmen vollständig auf Video aufzuzeichnen, um sicherzugehen, dass das eigene Gedächtnis keine Streiche spielt.

Er hält es auch für extrem wichtig, dass die Mitarbeiter zu jedem Zeitpunkt selbst einschätzen und beschreiben können, wie stark ihr emotionaler Stress ist. Dazu stellt das Unternehmen eine eigene App („Pain Button“) zur Verfügung, mit der diese Selbst-Einschätzungen gespeichert werden.

Eine weitere App, der so genannte „Dispute Collector“, soll dabei helfen, zwischenmenschliche Konflikte maschinengesteuert schlichten zu können.

Dalio verwendet hier einige Begriffe, die ich für schwierig halte. So spricht er von „harter Liebe“ / „tough love“, wenn er erklärt, dass kritisches Feedback nicht nur für die Weiterentwicklung des Teams wichtig ist, sondern auch für den Kritikempfänger, der aus diesem ehrlichen Feedback lernen soll und sich weiterentwickeln kann.

Wenn es möglich wäre, diese strengen Glaubwürdigkeitsstandards „objektiv“ zu gestalten und zu bewahren, könnte es sogar funktionieren. Allerdings nur dann, wenn durch formale Systeme, die sich an Dalios Prinzipien orientieren, eine Abweichung verhindert wird.

Das Vorgehen klingt daher zunächst einfach:

  • Entdecke und dokumentiere Deine persönlichen Prinzipien, die für Dich gelten sollen.
  • Wende diese Prinzipien mit maximaler Konsequenz für Dich selbst an und analysiere kontinuierlich alle Deine Erfolge und Misserfolge.
  • Sei dabei so realistisch wie irgend möglich. Verschwende keinen Gedanken daran, wie Du auf andere wirkst, sondern wie Du besser werden kannst.
  • Lerne aus den Misserfolgen und passe Deine Prinzipien auf dieser Basis an, lerne also aus Deinen Erfahrungen durch intensives und konsequentes Testen.

 

Experimentieren für die Weiterentwicklung

Damit enthält das Vorgehen nach Prinzipien viele Punkte, die sich in den Konzepten von Agilität, Lean Management, Lernende Organisation, Leading Change Management etc. ebenfalls wiederfinden:

  • Eine Betonung und Förderung der persönlichen und teamorientierten Reflexion im Tagesgeschäft, um voneinander lernen zu können
  • Eine Betonung der Gemeinschaft im Verhältnis zum Individuum, insbesondere bei Entscheidungen, quasi das Vertrauen in die Schwarmintelligenz
  • Die Möglichkeit, dass jedes Team-Mitglied Ort und Gelegenheit erhält, sich äussern zu können
  • Die möglichst umfangreiche Nutzung von Daten, sowohl aus objektiven Quellen (z.B. Marktdaten) wie aus subjektiven Quellen (z.B. Einschätzung der eigenen Zufriedenheit im Unternehmen)
  • Ansprache aller Ebenen der Organisation: Mind-Sets und persönliche Einstellungen, Prinzipien und Praktiken der Umsetzung

Es geht also kurz gesagt um maximale Kontrolle, Hierarchie und die Durchsetzungskraft des „Stärkeren“. Ein enges Netz von Prinzipien sorgt dafür, dass eine kontinuierliche Bewertung jedes Einzelnen zu jeder Zeit stattfindet. 

In Dalios Welt ist es das Individuum, der Einzelne, der sich unter Anleitung und Disziplinierung verbessern kann. Selbststeuernde Teams kommen nicht vor. Die kollektiven Regeln werden vorgegeben. Kollektiv-Entscheidungen können solange zugelassen werden, wie Vorgesetzte ein Veto einlegen können und die Regeln festgelegt sind.

 

 

Warum sich die Lektüre trotzdem lohnt:

Auf mehr als 500 Seiten stellt Ray Dalio 200 Prinzipien dar, die er in „Work“-Prinzipien und „Life“-Prinzipien unterteilt. Interessant ist dabei auch die Schilderung, wie diese Prinzipien entstanden sind, denn das kann eine gute Anleitung dafür sein, wenn Du Deine eigenen Prinzipien entwickeln und umsetzen willst. Ray Dalio empfiehlt:

  1. Studiere die Geschichte. Die meisten Dinge, die uns widerfahren, sowohl beruflich wie privat, sind anderen Menschen vor uns bereits unzählige Male passiert. Es hilft, intensiv zu recherchieren, wie diese Menschen früher mit ähnlichen Problemen umgegangen sind. Je besser Du in der Geschichte bewandert sind, umso früher kannst Du erkennen, wenn eine ähnliche Entwicklung erneut stattfindet.
  2. Schreibe es auf. Wer mich kennt, der kennt auch mein großes grünes Notizbuch. Ich nutze es seit vielen Jahren, um meine eigenen Prinzipien zu finden, über sie nachzudenken und sie zu überarbeiten. Mir hat dabei immer geholfen, dass ich so viel wie möglich schriftlich festhalte. Wer hat was gesagt? Warum wurde so entschieden und nicht anders? Welche Kriterien wurden dafür angewendet? Und haben sich diese Kriterien als stichhaltig erwiesen? Waren Sie geeignet für die Entscheidung? Haben sie zu richtigen Vorhersagen über das Ergebnis beigetragen? Und wenn nicht: Wie müssen sie nächstes Mal angepasst werden, um den gleichen Fehler nicht nochmal zu begehen?

  3.  Professionalisiere Dein Lernen aus Fehlern. Entwickele für Dich einen Prozess oder ein System, das dafür sorgt, dass Probleme an die Oberfläche kommen und gezielt nach der zugrunde liegenden Ursache gesucht wird. (Root-Cause-Analysis). Nur wenn sichergestellt ist, dass nichts verborgen bleibt und auch die Fehleinschätzungen und falschen Annahmen schonungslos auf den Tisch kommen, können wir erkennen, wo wir falsch gelegen haben.
    In einem „Logbuch“ oder „Issue Log“ kannst Du alle Fehler und Misserfolge dokumentieren, die zugehörigen Daten und relevanten Informationen sammeln und so lange analysieren, bis die Gründe für einen Fehlschlag hinreichend gut verstanden UND beschrieben sind. Der offene Punkt (das „issue“) wird geschlossen, wenn als Analyse-Ergebnis ein oder mehrere Prinzipien formuliert worden sind, die eine Wiederholung des Fehlers verhindern sollen.

Wie Du Deine eigenen Prinzipien entwickeln kannst

Nimm Dir etwas Ruhe und Zeit und notiere Dir, nach welchen Kriterien Du eine Entscheidung triffst. Formuliere Deine Entscheidungskriterien dann in Form von Prinzipien, z.B. „Ich kaufe grundsätzlich keine Kosmetika, die an Tieren getestet werden. /  Ich wähle nie den billigsten Anbieter. / Ich entscheide mich erst, wenn…“.

Prüfe das nächste Mal, z.B. nach einer Entscheidung oder einem Kauf, ob sich Deine  Kriterien bewährt haben oder ob sie noch optimiert werden sollten. Dadurch kannst Du Fehler vermeiden, wenn Du wieder in eine ähnliche Situation kommst.

Zum Umgang mit der – manchmal unliebsamen – Realität empfiehlt Ray Dalio folgende Prinzipien:

  • Sei ein HYPERREALIST: Gleiche Deine Träume kontinuierlich mit der Realität ab und mache Dir bewusst, welchen Einsatz Du bereit bist zu erbringen.
  • WAHRHEIT ist die absolute Grundlage für jedes positive Ergebnis: Öffne Dich  auch für Wahrheiten, die nicht angenehm sind aber zutreffen.
  • Sei so OPEN-MINDED wie möglich: Lerne, Deine blinden Flecken durch Gespräche mit anderen Menschen zu entdecken und höre auf diejenigen, die Dir  sagen, dass gerade etwas falsch geht. Suche immer nach Beweisen und Daten, statt allein auf Dein Bauchgefühl zu hören. Auch wenn das Ergebnis der Recherche Dir  vielleicht nicht gefällt.
  • Nimm Deinen Schmerz ernst: Schmerzen können Dich viel weiterbringen, wenn Du über die Gründe und die Auswirkungen nachdenkst, die zum Schmerz geführt haben.
  • Übernimm immer VOLLE VERANTWORTUNG für das Ergebnis: Es ist besser, an der eigenen Entscheidungsqualität zu arbeiten als über Umstände zu jammern, die außerhalb Deiner Kontrolle liegen.
  • Konfrontiere Deine SCHWÄCHEN: Wenn Dir klar geworden ist, welche Schwächen Du hast, kannst Du damit auf 4 Arten umgehen:
    • Du kannst die Schwächen abstreiten und ignorieren.
    • Du kannst sie akzeptieren und versuchen, besser zu werden oder die Schwäche in eine Stärke zu verwandeln.
    • Du kannst versuchen, die Schwächen zu umgehen und zu vermeiden.
    • Du kannst Deine Ziele so anpassen, dass Deine Schwäche keine Rolle mehr spielt.

Mein Fazit:

Das Buch von Ray Dalio enthält viele gute Hinweise und Tipps, deren Berücksichtigung sich lohnt. Wie immer sollte man sich aber vor einer Verabsolutierung hüten:

Innovationen entstehen selten in einer Atmosphäre, in der jeder permanent bewertet wird und die größte Angst herrscht, gegen eines der 200 Prinzipien zu verstossen. Vielleicht funktioniert das bei einem Hedge Fond besser als in anderen Unternehmen. Aber Innovation braucht immer auch einen gewissen Grad an Autonomie.

Die streng analytische und reflektierende Vorgehensweise in der Entwicklung eigener Prinzipien hilft aber trotzdem weiter. Sie hat letztendlich auch zur Entwicklung der 5 Elemente, mit denen ich meine Coachees immer wieder quäle, beigetragen.